Überwachung: Nicht USA gegen Deutschland, sondern Regierung gegen Bürger

Rede Sebastian Schweda (Amnesty International)

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

die Enthüllungen der letzten Monate haben der ganzen Welt eine dramatische Erosion des Rechts auf Privatsphäre gezeigt. Edward Snowden hat uns die massenhafte Überwachung der weltweiten Kommunikation durch die Geheimdienste der USA und Großbritanniens vor Augen geführt.

Wir wissen heute, wie diese Dienste die ihnen verfügbaren Mittel dazu nutzen, Netzinfrastrukturen, Endgeräte und technische Standards zu manipulieren, um sich nahezu unbegrenzten Zugang zu den E­Mails, Mobilfunkdaten und Internetaktivitäten von Millionen Menschen zu verschaffen. Wir haben erfahren, dass Daten in bisher nicht gekanntem Umfang über lange Zeiträume gespeichert werden und jederzeit ausgewertet werden können. Und bis heute sind die Veröffentlichungen nicht abgeebbt.

Doch schon das, was wir wissen, ist in seinem Ausmaß und seiner Wahllosigkeit erschreckend: Es ist klargeworden, dass ein großer und ständig wachsender Teil der Menschheit – nämlich derjenige mit Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln – heute unter Dauerbeobachtung steht. Ohne einen konkreten Anlass gegeben zu haben, kann jeder Mensch jederzeit zum Ziel heimlicher staatlicher Überwachung werden, und die gesammelten Daten bleiben vielleicht sein ganzes Leben über gespeichert und können ihm jederzeit zu beliebigen Zwecken vorgehalten werden.

Dies stellt eine massive Verletzung des Menschenrechts auf Privatsphäre dar. Die Enthüllungen haben uns gezeigt, dass dieses Recht in der digitalen Kommunikation heute weltweit nahezu völlig ausgehebelt ist. Ein schwerwiegenderer Eingriff in ein einzelnes Menschenrecht ist – noch dazu in dieser globalen Dimension – kaum vorstellbar. Nach dem, was wir heute wissen, gehen die größten Gefahren für die Menschenrechte im Netz zur Zeit von den „Five Eyes“­Staaten aus.

Wir dürfen darüber allerdings nicht vergessen, dass sich auch andere Staaten – u. a. Deutschland und nahezu alle EU-­Staaten von einigem politischem Gewicht – an diesem Überwachungsnetz lebhaft beteiligen. Sie profitieren nicht unerheblich von dem Ringtausch dieser Datenbestände. Wir müssen uns zugleich den Unterschied zwischen der klassischen Spionage gegen fremde Staaten und der jetzt aufgedeckten Massenüberwachung quasi der gesamten Bevölkerung klarmachen und uns mit der bitteren Wahrheit konfrontieren, die sich daraus ergibt: Das Spiel, das hier gespielt wird, heißt nicht USA versus Deutschland oder die „Five Eyes“ gegen den Rest der Welt. Das Spiel, das hier gespielt wird, heißt Regierung versus Bürger!

Was passiert mit all diesen Daten? Dass die Überwachung nur der Terrorabwehr dient, lässt sich mit einem Blick auf die fehlende Erfolgsbilanz in diesem Bereich schnell als Schutzbehauptung entlarven. Trotz der aufgedeckten Massenüberwachungsprogramme haben auch nach 2001 weiter Anschläge stattgefunden – wie zuletzt in Boston 2013. Ein Nachweis, dass diese Programme zur Verhinderung irgendeines Anschlags beigetragen haben, steht dagegen bis heute aus. Statt dessen wissen wir, dass die USA allein auf Basis von Telekommunikationsdaten, die unter anderem in Ramstein ausgewertet werden, Drohneneinsätze auch gegen Unschuldige fliegen und extralegale Tötungen in Ländern wie Pakistan, Somalia oder dem Jemen selbst an Minderjährigen durchführen.

Auch auf andere Menschenrechte, wie etwa die Meinungs­ und Informationsfreiheit, hat die Überwachung gravierende Auswirkungen: Zu den sogenannten „Chilling Effects“, der abschreckenden Wirkung, die das Wissen, überwacht zu werden, auf die Wahrnehmung der Meinungsfreiheit haben kann, gibt es überzeugende Studien auch aus der jüngsten Zeit. Der britische GCHQ gibt sich zudem nicht mit der Kommunikationsüberwachung zufrieden, sondern manipuliert darüber hinaus sogar aktiv und ganz gezielt Informationen und Meinungsäußerungen im Netz.

Mehr und mehr wird klar: Der Zweck dieser völlig wahllosen Überwachung ist nicht allein die Terrorabwehr. Es geht auch um die Möglichkeit der Kontrolle von Gesellschaften und ihre Steuerung.

Das muss ein Ende haben! Ohne Privatsphäre sind Rechtsstaat und Freiheit nicht denkbar!

Dort, wo in unsere Rechte von außen eingegriffen wird, hat die Regierung eine Schutzpflicht gegenüber den Menschen in ihrer Hoheitsgewalt. Sie muss mit den Mitteln, die sie hat, dafür sorgen, dass die massenhafte Verletzung des Rechts auf Privatsphäre abgewehrt wird.

Mit Blick auf Deutschland fordert Amnesty deshalb, dass die Bundesregierung dieser Schutzpflicht nun unverzüglich nachkommt. Sie muß selbst eine aktive Rolle bei der Aufarbeitung und der Erarbeitung von Wegen für einen besseren Schutz dieses Menschenrechts spielen. Und sie darf auch der Aufklärung der Vorwürfe durch den NSA­Untersuchungsausschuss keine Steine in den Weg legen. Es muss sichergestellt sein, dass der Hauptzeuge, Edward Snowden, angehört werden kann.

Der Untersuchungsausschuss selbst darf sich nicht auf die Überwachung durch ausländische Geheimdienste beschränken, sondern muss darüber hinaus auch untersuchen, welche Rolle deutsche Nachrichtendienste bei der globalen Überwachung spielen und in welchem Umfang sie mit den US­-amerikanischen und britischen Diensten kooperieren.

Es müssen jetzt endlich Konsequenzen gezogen werden. Die Enthüllungen von Edward Snowden dürfen nicht ausgesessen oder vergessen werden.

Man konnte in den letzten Monaten häufig die Resignation vieler Menschen hören. Die Frage: Warum passiert nichts? Und die selbstgegebene Antwort: Weil es ja doch niemanden interessiert.

Doch, es interessiert jemanden. Und jeden Tag interessiert es mehr. Weil das Desinteresse weiter Teile der Bevölkerung aus Desinformation gespeist wird. Diejenigen, die begreifen, was da abgeht, die begreifen, wie da hinter ihrem Rücken unser Staats­ und Gesellschaftsmodell umgebaut wird, die werden wütend.

Doch, es passiert etwas. Wir sind heute hier, zahlreiche NGOs – auch solche wie Amnesty, die bisher nicht dazu gearbeitet haben – haben das Thema nun auf ihrer Agenda ganz weit vorne. Und auch die Politik ist bisher – trotz aller Versuche von verschiedener Seite, das Thema auszusitzen oder die Aufklärung zu behindern – nicht zur Ruhe gekommen. Es hat einige kleine, zaghafte Schritte in die richtige Richtung gegeben.

Wir wollen, dass sich dieser Trend fortsetzt! Wir wollen, dass die Schritte größer, mutiger werden. Die gravierenden systemischen Probleme, die hinter diesen Enthüllungen stecken, die werden nicht von heute auf morgen zu lösen sein. Es wird ein langer Marsch werden, aber denjenigen, die glauben oder gar hoffen, dass wir unterwegs straucheln und aufgeben, denen möchte ich sagen: Wir haben festes Schuhwerk dabei!

Wir werden dieses Thema beharrlich weiterverfolgen. Amnesty hat Erfahrung mit Beharrlichkeit, und es sind gute Erfahrungen: Die Vereinbarung von wichtigen menschenrechtlichen Verträgen wie der Antifolterkonvention oder dem Waffenhandelsabkommen sind nur durch langes zähes Ringen zu Stande gekommen.

Lassen Sie uns auch hier, beim Thema Überwachung, nicht vorzeitig aufgeben! Die Zeit ist mit uns!

Natürlich wird das kein leichter Job. Und natürlich ist es nicht nur die Aufgabe von Amnesty, sondern von uns allen! Wir müssen klarmachen, dass dies ein Problem aller Leute ist, nicht nur von ein paar Netzaffinen oder Bürgerrechtlern. Wir brauchen mehr „Normalos“, die begreifen, was da mit ihren Rechten passiert. Menschenrechtsbildung ist wichtig! Das ist unsere gemeinsame Aufgabe! Jeder kann Botschafter, jeder kann Multiplikator sein!

Zeigen wir gemeinsam der ausufernden Überwachung die rote Karte!

Ich möchte abschließend noch an eines erinnern: Die Tatsache, dass wir heute hier überhaupt gegen die unverhältnismäßige Überwachung demonstrieren können, haben wir nur dem entschlossenen Handeln eines mutigen Mannes zu verdanken, der uns über diese massiven Menschenrechtsverletzungen informiert hat! Amnesty wird in Kürze eine Petition veröffentlichen, die sich dafür einsetzen wird, die prekäre menschenrechrechtliche Lage von Edward Snowden zu verbessern!

Bitte helfen Sie mit, unterschreiben Sie, besuchen Sie unsere Website in den nächsten Tagen und nehmen Sie an der Online­-Petition teil!

Vergessen wir nicht die Menschen, die Verletzungen unserer Menschenrechte aufdecken und uns allen dabei helfen, diese Rechte zu verteidigen!