Rede Dr. Rolf Gössner (Internationale Liga für Menschenrechte)
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,
während wir hier zu Tausenden offen gegen Überwachung und für Freiheit statt Angst demonstrieren, gehen die Geheimdienste im Rahmen eines globalen Informationskriegs ungebremst ihren dunklen Geschäften nach. Was wir gerade erleben ist kein Insichgehen, kein Innehalten angesichts des größten Überwachungs- und Ausspähskandals aller Zeiten – im Gegenteil: Anstatt endlich die Menschen vor geheimdienstlicher Ausforschung zu schützen, werden die Geheimdienste auch hierzulande aufgerüstet und massenüberwachungstauglicher gemacht. Verfassungsschutz und BND wollen sich vom Großen Bruder „NSA“ emanzipieren, sollen also aus dem Desaster gestärkt hervorgehen. Bei diesem schamlosen Wettrüsten im globalen Informationskrieg geht es nur vordergründig um „Terrorabwehr“ und „Sicherheit“; letztlich geht es um geostrategische und ökonomische Machtinteressen – bis hin zu Aufstandsbekämpfung und Absicherung militärischer Interventionen.
Die digitale Durchleuchtung ganzer Gesellschaften im Namen von Sicherheit und Terrorbekämpfung stellt Millionen von Menschen unter Generalverdacht, unterhöhlt die Unschuldsvermutung, führt zu massenhafter Verletzung von Persönlichkeitsrechten, stellt die Kommunikationsfreiheit, ja die Demokratie insgesamt in Frage. Unkontrollierte freie Kommunikation ist Quintessenz freiheitlich demokratischer Gesellschaften. Denn überwachte Menschen sind niemals frei, sie ändern ihr Verhalten, werden unsicher, entwickeln Ängste, passen sich an – Auswirkungen, die den demokratischen Rechtsstaat schädigen, wie das Bundesverfassungsgericht schon vor über dreißig Jahren in seinem berühmten Volkszählungsurteil festgestellt hat.
Die Internationale Liga für Menschenrechte, für die ich hier spreche, hat zusammen mit ChaosComputerClub und Digitalcourage Edward Snowdens grandiose Enthüllungen zum Anlass genommen, beim Generalbundesanwalt Strafanzeige zu erstatten gegen die Bundesregierung und gegen Geheimdienst-Verantwortliche. Warum?
1. Wegen massiver Verstrickung bundesdeutscher Geheimdienste in das globale Massenüberwachungssystem,
2. wegen millionenfacher Verletzung der Privatsphäre, und
3. wegen sträflich unterlassener Abwehrmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung.
Es war für uns der Versuch, die gesellschaftliche Duldungsstarre, die wir nach den Enthüllungen allenthalben spürten, zu durchbrechen. Tatsächlich wirkte dieser Akt der Notwehr wie ein Ventil, das plötzlich geöffnet wird: Tausende unterstützen inzwischen unsere Strafanzeige.
Bekanntlich hat der Generalbundesanwalt ein formelles Ermittlungsverfahren einge-
leitet – aber nur wegen des unfreundlichen Angriffs auf das Handy der Kanzlerin. Eine politisch motivierte Kompromissentscheidung, die an der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zweifeln lässt. Denn auf Ermittlungen wegen der massenhaften Ausspähung von uns allen verzichtet der Generalbundesanwalt – kurioserweise mangels „zureichender Tatsachen“. Das ist Realitätsverleugnung, hart an der Grenze zur Strafvereitelung im Amt.
Doch wir werden nicht lockerlassen. Einstweilen halten wir diese Verweigerungshaltung für eine Kapitulation des Rechtsstaats vor staatlichem Unrecht. Die bundesdeutschen Geheimdienste können sich so jeder Verantwortung entziehen, obwohl sie längst aufs Engste in den menschenrechtswidrigen Geheimverbund verflochten sind, ebenso wie in die schmutzigen US-Kriege gegen den Terror. Snowden sagt wörtlich: „BND und NSA liegen in einem Bett“. Eine wahrlich grauenhafte Vorstellung.
Liebe Mitstreiter_innen, die einzig funktionierende demokratische Kontrolle über demokratiewidrige Geheimdienste besteht in deren vollständiger Auflösung – einstweilen in der Offenlegung ihrer dunklen Geheimnisse und kriminellen Machenschaften. Und gerade hier haben Edward Snowden, andere Whistleblower und ihre Unterstützer_innen sensationelle Pionierarbeit geleistet und enormen Mut bewiesen. Das Whistleblowertum im digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt hat existentielle Bedeutung gewonnen und muss endlich menschen- und völkerrechtlich geschützt werden.
Edward Snowden hat mit seiner Gewissensentscheidung seine persönliche Freiheit riskiert, um die unsere zu schützen. Lasst ihn uns in praktischer Solidarität unterstützen; lasst uns gemeinsam für eine Kultur des Whistleblowing streiten, die es hierzulande noch nicht ansatzweise gibt. Was uns fehlt und was wir dringend brauchen: einen Snowden im BND und im „Verfassungsschutz“! Und jede Menge Zivilcourage. Dieses Land braucht endlich eine starke Bürgerrechtsbewegung und widerständige Menschen, die Bürger- und Menschenrechte, auch für das digitale Zeitalter, neu erkämpfen, und die sich staatlicher Überwachung und Kontrolle tatkräftig und mit Phantasie widersetzen. In diesem Sinne, herzlichen Dank.